Stolperstein Ilse Silbermann

Seit fast 20 Jahren schon gibt es auf Hamburgs Gehwegen kleine glänzende Gedenksteine, die an das Leben meist jüdischer NS-Mordopfer vor deren früheren Wohnorten erinnern

Meine Mutter ist Jahrgang 1926. Sie lebte in Hanover-Isernhagen in einer gutbürgerlichen protestantischen Familie, als das NS-Regime begann. Nach Kriegsende, mit 19 Jahren, holte sie ihre gestohlene Jugend nach. Die Ausbildung zur Grundschullehrerin, die sie noch während des Krieges begonnen hatte, musste sie abbrechen. Sie war jedoch eine selbstbewusste, unabhängige junge Frau, im Standesamt tätig, und heiratete mit 26 Jahren ihre Jugendliebe Werner. Inzwischen lebt sie als Witwe in ihrem hübschen Apartment einer Senioren-Wohnanlage und blickt auf ein erfülltes Leben zurück: Wohlstand, Eigenheim, zwei gesunde Kinder. Urlaube, Reisen, ein großer Freundes- und Bekanntenkreis. Immer hat sie uns vor den Schrecken eines Krieges gewarnt. Von der schlechten Zeit erzählt. Den Luftschutzkellern. Auch von den Schicksalen aus dem Bekanntenkreis. Und ganz, ganz weit weg… gab es einen Apotheker, ein Jude, der sich das Leben nahm. Warum? Er durfte ja nicht mehr arbeiten. Und ihm drohte, abgeholt zu werden. Abgeholt? Ja, ins Lager, Genaues wusste man nicht, nein, durfte man nicht wissen.

Erst viel später wurde mir klar, dass das Schicksal dieses Mannes kein nebulöser Einzelfall war. Sondern abertausendfacher Alltag. Und viel präsenter. Ich bin dem Kölner Künstler Gunter Deming so dankbar, dass es ihm mit seinem 1995 initiierten Projekt STOLPERSTEINE gelingt, das Verschwinden Zehntausender NS-Opfer zu dokumentieren. So sind inzwischen in ganz Europa mehr als 70.000 Menschen wieder „sichtbar“ geworden. In Hamburg wurde in der vergangenen Woche der 5.817te Gedenkstein in der Blankeneser Godeffroystrasse verlegt. Da ich die Ehre habe, Patin dieses Stolpersteines zu sein, möchte ich hier die Geschichte der Person erzählen, deren Namen er trägt:

Ilse Silbermann wurde 1920 in Berlin geboren und zog als kleines Mädchen mit ihrem Vater und dessen zweiter Frau nach Hamburg-Hamm, wo sie die Osterbrookschule besuchte und evangelisch erzogen und getauft wurde. In der Eimsbütteler Jerusalem-Kirche wurde sie im April 1935 konfirmiert und nahm dort am Jugendkreis teil. Doch nach Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze begann das Mobbing. Sie durfte nicht mehr an Klassenreisen teilnehmen, Mitschülerinnen distanzierten sich von ihr, der „Geltungsjüdin“. Also ging Ilse nach der mittleren Reife ab und machte eine Ausbildung in einem Exportunternehmen, welches von einem jüdischen und einem nicht-jüdischen Chef geleitet, wurde. Als Fremdsprachenkorrespondentin verfügte sie über gute Englisch- und Französischkenntnisse. Sicherlich träumte sie von Ausflügen nach London, von Fahrten nach Paris. Doch sie reiste nirgendwo hin. Ihr jüdischer Chef musste flüchten, Ilse wurde entlassen. Ab diesem Zeitpunkt konnte sie nur noch als Haushaltsgehilfin arbeiten, in jüdischen Haushalten. Ihr letzte Meldeadresse ist die des Bibliothekars Gerhard Alexander, dessen Haushalt sie in der Blankeneser Godeffroystrasse 42 führte. Die Volkszählung 1939 verzeichnet sie als Ilse „Sara“ Silbermann dort als Haushaltsmitglied. Es folgten andere Anstellungen. Dann die Verpflichtung als Zwangsarbeiterin in der Lokstedter Seilfabrik und Spinnerei Steen & Co. und die Zwangsumquartierung in ein sogenanntes Judenhaus in der Altonaer Wohlersallee. Nüchterne Daten. Was aber fühlte Ilse in dieser Zeit? Mehrere Evakuierungsbefehle hatte sie inzwischen erhalten, dies teilte sie verzweifelt ihrem Vater Theodor Silbermann mit. In dessen Haus feierte die Familie 1941 ihr letztes gemeinsames Weihnachten. Ihr Vater, der später das Martyrium als Zwangsarbeiter ins KZ Theresienstadt überlebte, beschreibt in einem Brief seine letzte Begegnung mit seiner Tochter:

„Als sie sich am dritten Feiertag von uns verabschiedete, fing sie herzzerreissend an zu weinen. Auf eindringliche Fragen stellte sich heraus, dass sie wieder einen Evakuierungsbefehl erhalten hatte und sofort weg sollte. Es gelang uns diesmal wieder durch Verhandlungen mit demselben Beamten, den Evakuierungsbefehl zurückzustellen. Dann trat das ein, was wir schon lange befürchtet hatten. Der ganze jüdische Arbeitseinsatz der Firma Steen hatte Evakuierungsbefehle erhalten und musste sich im Sammellager in der Hartungsstraße einfinden. Ilse war nunmehr für uns verloren. Ich und eine Freundin gingen noch mit ihr mit. Von meiner Frau hatte sie sich noch in der Wohnung verabschiedet, und ich habe die erschütternde Szene nicht vergessen. In der Hartungsstraße wurden die Koffer mit den Habseligkeiten durchsucht. Ich sah dabei, dass man Seife und anderes den Juden wegnahm, und ich sah auch, wie ein Gestapo-Mensch einer Jüdin die Armbanduhr wegnahm und in seine Jacketttasche steckte. Die Firma Steen hatte noch die Arbeitspapiere und den rückständigen Lohn für die Leute ihres jüdischen Arbeitseinsatzes nach der Hartungsstraße gesandt. Keiner davon erhielt aber ein Arbeitspapier oder einen Pfennig Lohn. Das hat die Gestapo wohl über den Schnabel genommen. Der Evakuierungsbefehl für Ilse datierte vom 9.7.1942 mit der Weisung, sich sofort im Sammellager Hartungsstraße einzufinden. Ilse schrieb uns noch am 10.7. und am 11.7.1942 eine Postkarte aus dem Sammellager. Sie schrieb, wahrscheinlich uns zum Trost, sehr optimistisch, hatte auch dort Bekannte getroffen und glaubte, nunmehr alles, was an sie herantritt, durchstehen zu können.“

Juli 1942. Da war Ruth, meine Mutter, sechzehn Jahre alt. Bestimmt träumte auch sie in diesen dunklen Jahren von besseren Zeiten, von Reisen und unbeschwerten Tanztees. Nicht vergeblich. Denn die besseren Zeiten kamen. Für sie.

Nicht für Ilse. Ihr Todesdatum wird lediglich geschätzt. Der Transport, der mit circa 1000 Menschen aus Hamburg abfuhr, wurde von der Gestapo nicht vermerkt. Erst später wurde durch eine eidesstattliche Erklärung belegt, dass das Ziel Auschwitz gewesen war. Ilse Silbermann wurde 22 Jahre alt.

Gibt es einen Himmel? Werden Ruth und Ilse sich jemals dort begegnen?