Die als Eheroman beschriebene Erzählung „All unsere Jahre“ von Kathy Page, erschienen im Verlag Wagenbach, beginnt mit der Geburt des späteren Ehemannes, wir steigen also bei Stunde Null ein in die Lebenswirklichkeit des Protagonisten Harry. Das drei Teile umfassende Buch beginnt in den Dreissigerjahren in einem Londoner Vorort. Klohäuschen, Lammeintopf, Kopfsteinpflaster – die Enge und das redliche Bemühen um ein gesellschaftliches Vorankommen skizziert die Autorin anschaulich und gefühlvoll, ich lerne Harry als gelehrigen Schüler und nachdenklichen jungen Mann kennen. Als er die ehrgeizige Evelyn trifft, setzen sich beide für die Erfüllung ihres Traums nach einem Leben in besseren Verhältnissen ein. Die zeitweilige Trennung während Harrys Frankreich-Einsatz bei der Kriegsmarine überbrückt er mit dem Verfassen feinsinniger Briefe. Das Eheporträt, welches sich über die 70 Jahre dauernde Ehe erstreckt, skizziert die Gefühlswelten beider Ehepartner, trägt aber deutlich stärker die Handschrift Harrys, und so erfahren wir weitaus mehr über sein Innenleben als über die Gedanken Evelyns.
Wohlstand, Sicherheit und unerfüllte Träume
Der gelungene gesellschaftliche Aufstieg, das Familienleben mit den drei Töchtern, deren Erziehung, die Beschreibung eines von den ganz großen Katastrophen verschonten Familienlebens erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte. Dass Harry und Evelyn sich über die Jahre hinweg mehr und mehr entfremden, nehme ich zunächst als den Umständen geschuldet hin. Dann sind die Töchter aus dem Haus und dem Ehepaar gelingt es nicht, die Fülle der gemeinsamen Jahre als Basis einer Wiederannäherung zu nutzen. Die Töchter erleben fassungslos, wie sich ihre Eltern in einer kleinkrämerischen Ehehölle aufreiben. Nahezu willenlos erträgt Harry letztendlich die bittere Entscheidung Evelyns, ihn in ein Pflegeheim zu verfrachten, wo er seine letzten Jahre verbringt.
Eine männliche Stimme der Kriegsgeneration
Mich berührt der Roman sehr, da ich ihn wie eine Studie meiner Elterngeneration lesen kann. Wie es sich für meinen Vater angefühlt hat, in einen Krieg ziehen zu müssen, dort unaussprechliche Erfahrungen zu machen und dann zu seiner Liebsten zurückzukommen, das haben mir Harrys Briefe wunderbar vermitteln können. Auch seine späteren Bemühungen, verantwortungsvoll und aufopfernd den „Versorger-Part“ zu erfüllen, während Evelyn um den sozialen Aufstieg und Prestige kämpft, ist stellvertretend für eine ganze Generation kriegsmüder Männer. Kathy Page hat mir mit diesem Werk (der Originaltitel des Buches lautet übrigens „Dear Evelyn“) ein grandioses Geschenk bereitet – der nachhaltigste Titel meines Lesejahres!
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